Selbstbildnis eines Roboters

Malen, dichten, komponieren: Maschinen lernen, Kunst zu machen. Bislang ahmen sie den Menschen vor allem nach. Aber können Algorithmen auch wirklich kreativ sein?

Die israelische Malerin Liat Grayver arbeitet derzeit mit einem neuen Assistenten. Er heißt E-David und kommt von der Universität Konstanz. Er ist ein Industrieroboter, der programmiert wurde, einen Pinsel zu führen und Fotos abzumalen. Grayver gab ihm einmal vor, ein Selbstporträt zu erstellen. Noch während der Roboter sich malte, verglich er sein Werk laufend mit dem Original und versuchte, sich zu verbessern. Sein Stil war durch Algorithmen vorgegeben, aber dennoch war das Ergebnis offen. „E-David merkt nicht, ob die Farbe tropft oder ausgetrocknet ist“, sagt Grayver. „So entstehen überraschende, nicht kontrollierte Effekte.“ Künstlerin und Roboter sind ein kreatives Team geworden.

Gemälde, Gedichte oder Musikstücke seien das Resultat eines komplexen geistigen oder emotionalen Vorgangs. Die Kreativität werde den Menschen deshalb immer von Maschinen unterscheiden, betonen Kreativitätsforscher wie der ungarische Psychologe und Autor Mihály Csíkszentmihályi. Und dennoch gelingen Maschinen wie E-David künstlerische Werke, die vom menschlichen Schaffen kaum zu unterscheiden sind.Werden Maschinen jetzt also auch noch kreativ?

Aber was heißt schon „kreativ“? Bis heute weiß die Wissenschaft noch nicht einmal genau, was im Gehirn vor sich geht, wenn ein Mensch kreativ ist. Forscher versuchen seit Jahren, es herauszufinden. Mit ihren Geräten konnten sie zeigen, dass das kreative Gehirn zwischen Tagträumen und Schlafzustand schwankt. Der präfrontale Cortex, mit dem Menschen Gedanken und Impulse kontrollieren, ist dabei weitgehend deaktiviert. Neue Informationen können sich ungehindert mit alten verbinden – daher entstehen neue Ideen. Mihály Csíkszentmihályi beschreibt das kreative Schaffen als „Flow“-Erleben, einen tranceähnlichen Glückszustand. Der Psychologe Andreas Fink von der Universität Graz spricht gar von einer „Alpha Power“. Allerdings können die Forscher nicht sagen, welche Gehirnregionen auf welche Weise dabei genau zusammenwirken.

Kreativität bleibt ein Rätsel, und somit ist es unmöglich, ein Gehirn im Flow-Zustand von einer Software simulieren zu lassen. Informatiker, die künstliche Kreativität erschaffen wollen, setzen stattdessen auf eine besondere Stärke, die Computer gegenüber dem menschlichen Gehirn haben, nämlich die Fähigkeit, riesige Datenmengen in kurzer Zeit verarbeiten zu können. Ein Rechner kann sich Tausende Musikstücke, Kunstwerke oder literarische Werke merken, davon inspirieren lassen und auf neue Weise kombinieren – vorausgesetzt, das kreative Schaffen des Menschen lässt sich in sinnvolle, logische Bestandteile zerlegen, mit denen der Rechner etwas anfangen kann.

Gerade in diesem Bereich hat die Informatik große Fortschritte gemacht. Der Computerlinguist David Bamman von der Universität Kalifornien erstellte zum Beispiel aus 15099 Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts eine Statistik für Charakter-Typen. Seine Software griff alle Wörter auf, die beschreiben, welche Eigenschaften Charaktere aufweisen,wie sie handeln, was ihnen widerfährt und welche Objekte sie benutzen. Der Rechner konnte aus diesen Statistiken herauslesen, dass sich zwei vergleichbare Charaktere eines Autors ähnlicher sind als zwei vergleichbare Charaktere von zwei verschiedenen Autoren. So ist die Figur Wickham in Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ dem Charakter Willoughby in „Verstand und Gefühl“ ähnlicher als dem ebenfalls fragwürdig agierenden Rochester in Charlotte Brontës „Jane Eyre“. Die Software soll mittels solcher Vergleiche in die Lage gebracht werden, Charaktere wahrzunehmen, wie es ein Leser tun würde. In weiteren Schritten soll sie dann eigene Charaktere erschaffen.

Während es allerdings einfach ist, auf diese Weise Charakter-Typen zu identifizieren, ist es weitaus schwieriger, solche Muster in Handlungen zu erkennen.Versuche gibt es reichlich: Bereits 1928 hatte der russische Strukturalist Vladimir Propp versucht, 31 narrative Archetypen festzulegen, die er in russischen Märchen fand, zum Beispiel „Der Held verlässt seine Heimat“ oder „Der Held heiratet und besteigt den Thron“. Der Franzose Georges Polti kam im19. Jahrhundert auf 36 Plots, die allen Geschichten zugrunde liegen sollen. Der britische Autor Christopher Booker fand nur sieben grundlegende Handlungsmuster des Erzählens, der amerikanische Autor Ronald B. Tobias glaubt an 20 „Masterplots“, Forscher der Universität Vermont an gerade mal sechs.

Obwohl es willkürlich erscheint, ist das Prinzip des Zerlegens von Kunst in einfache Struktureinheiten heute Basis für kreative Berechnungen. Was dabei entsteht, kommt allerdings beim Publikum nicht unbedingt gut an. Eine Forschergruppe von der Universität Madrid, die sich mit künstlicher Intelligenz befasst, extrahierte die typischen Handlungselemente der erfolgreichsten Musicals. Die Software kombinierte einige davon und schuf damit die grobe Handlung für das Musical „Beyond the Fence“, das im vergangenen Jahr in London uraufgeführt wurde. Es erzählt von einer Frau, die während des Kalten Krieges gegen die Errichtung einer amerikanischen Raketenstation protestiert, während ihre stumme Tochter sich in einen US Soldaten verliebt. Dabei zeigte sich das Problem einer auf Glutathionperoxidasenaktivität: Die Kritiker fanden das Musical standardisiert und klischeehaft. Wenn typische Handlungselemente neu verknüpft werden, kommt offenbar auch nur eine typische Geschichte dabei heraus.

Um dies zu vermeiden, müsse der Rechner nicht nur geschickt auswerten und kombinieren, sondern auch selbstkritisch sein. Er muss verstehen, woran es seinem kreativen Werk mangelt. Das sagt jedenfalls Anna Jordanous aus dem Fachgebiet Computational Creativity der britischen Universität Kent. Ihr Team suchte nach objektiven Bewertungskriterien für die kreative Leistung eines Computers. Die Forscher verglichen 30 Studien aus vergangenen Jahrzehnten zum Thema Kreativität mit den 60 meistzitierten Studien aus den gleichen Jahren und Fachgebieten, in denen Kreativität kein Thema ist. Dabei fanden sie 694 Wörter,die in den Kreativitätsstudien häufiger vorkamen als in den Vergleichsstudien. Die Forscher gruppierten die Wörter zu den „14 Schlüsselkomponenten der Kreativität“, darunter zum Beispiel „Originalität“, „Spontanität & unbewusste Verarbeitung“, „Unabhängigkeit & Freiheit“ oder „fachliche Kompetenz“.

Jordanous legte diese 14 Komponenten erfahrenen Musikern vor. Diese sollten angeben, welche davon bei improvisierter Jazzmusik am wichtigsten seien.Platz eins belegte dabei „Interaktion und Kommunikation“, also das Zusammenspiel mit anderen Musikern, gefolgt von „fachlicher Kompetenz“, der Beherrschung des Instruments oder der Noten. Mithilfe dieser Bewertung evaluierte Jordanous schließlich eine Musik-Software, die sie selbst entwickelt hatte. Dabei stellte die Forscherin fest, dass in ihrem Programm die Interaktion mit menschlichen Mitmusikern zu kurz kam. Nun kann Jordanous der Software beibringen, auf die Mitspieler einzugehen.

Das langfristige Ziel ist, diesen Evaluierungsprozess zu automatisieren. Eine kreative Software könnte dann im Internet, zum Beispiel in sozialen Netzwerken, die Resonanz auf das eigene Werk auswerten und sich laufend verbessern. Das ideale kreative System besteht somit aus mehreren Kernfähigkeiten: Es hat im Kurzzeitgedächtnis das Wissen über vergangene Werke einer Kunstrichtung parat, zerlegt diese in Kernkomponenten, setzt verschiedene Bestandteile sinnvoll zusammen und stimmt das Resultat auf den Geschmack des Publikums und der Kritiker ab.

Das klingt nicht besonders kreativ, und aus diesem Grund betrachtet der Informatiker Andreas Butz von der Ludwig-Maximilians-Universität München kreative Software auch als Etikettenschwindel.„Rechner können dies alles leisten, aber letzten Endes stammt die kreative Leistung von Menschen“, sagt er. Der Rechner tue nur so, als sei er kreativ.

Für manche Anwendungen könnte das immerhin schon reichen. Als etwa „Watson“, eine künstliche Intelligenz des IT Konzerns IBM, eine Datenbank mit Kochrezepten auswertete und dann eigene vorschlug, nannten Köche dies bereits kreativ. „Aber das heißt nicht, dass ein Rechner eine bahnbrechende Symphonie komponieren könnte“, sagt Butz. „Solche Werke entstehen, weil Künstler sich über bestehende Grenzen hinwegsetzen möchten. Die Motivation dafür hat ein Rechner nicht.“ Mihály Csíkszentmihályi sieht das ähnlich. Die Motivation, ein Problem zu lösen, sei ein wesentlicher Aspekt der Kreativität. „Mit dem Status quo unzufrieden zu sein – das lässt sich am Rechner schwer simulieren“, sagt er. „Daher decken auch die 14 Schlüsselkomponenten der Forscher aus Kent die Kreativität nicht vollständig ab.“

Aber selbst wenn dem kreativen Rechner die Motivation fehlt, mehr als durchschnittliche Massenware zu produzieren, gibt es Szenarien, in denen genau diese Fähigkeit gefragt sein wird. Kai-Uwe Kühnberger von der Forschungsgruppe Künstliche Intelligenz an der Universität Osnabrück kann sich zum Beispiel vorstellen, dass Rechner bei kreativen Routine-Aufgaben behilflich sind. „Wenn ein Komponist ein musikalisches Thema für einen Hollywoodfilm sucht, geht er unter anderem von den Charakteren aus“, sagt Kühnberger. „Bei einem Piraten wie in ‚Fluch der Karibik‘ erwartet man einen schnellen, wilden Sound, während eine niedergeschlagene Figur von einem eher düsteren, langsamen Thema begleitet wird.“ Das einmal gefundene Thema muss der Komponist dann für verschiedene Szenen variieren. Eine Software könnte ihm dafür Vorschläge liefern. Gleiches gelte für technische Innovationen: Einem Ingenieur, der eine Heckklappe für ein Auto entwerfen müsse, könne ein Rechner eine Vielzahl neuer Entwürfe vorschlagen.

Als der zweimalige Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling gefragt wurde, wie er es geschafft habe, mehrere bahnbrechende Entdeckungen in seinem Leben zu machen, sagte er schließlich auch nur: Wer gute Ideen suche, müsse möglichst viele haben und die schlechten verwerfen.

Dieser Text erschien in der Süddeutschen Zeitung.