Seekrank in der virtuellen Realität
Die virtuelle Realität dringt in immer mehr Bereiche vor – und nicht alle fühlen sich wohl dabei.
Mit Head-Mounted-Displays wie Oculus Rift oder HTC Vive taucht man in virtuelle Landschaften ein. Das Gerät sitzt wie eine Taucherbrille vor den Augen und man schlendert etwa am Strand entlang. Man kann den Kopf in alle Richtungen drehen und sich mithilfe der Computertastatur fortbewegen. Aber nicht alle Menschen haben Spaß daran, vielen wird schlecht. Die Simulatorkrankheit oder „Motion Sickness“ rührt daher, dass man über das Display eine Fortbewegung wahrnimmt, während man tatsächlich am Schreibtisch sitzt. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und das Auge stehen im Sinneskonflikt – ähnlich wie bei der Seekrankheit.
Die Übelkeit ist ein Problem, denn Virtual Reality (VR) dringt in immer mehr Bereiche vor: Architekten inspizieren virtuelle Häuser, Planer Produktionslagen. Piloten trainieren im Simulator Krisensituationen und Autohersteller probieren während simulierter Fahrten aus, welche Technik am Lenkrad nützlich sein könnte. Für professionelle Anwender gibt es „Caves“, begehbare Räume, in denen die virtuelle Welt an Wand, Decke und Boden projiziert wird. Der Nutzer bewegt sich mit 3-D-Brille, die Software passt die Umgebung der Blickrichtung an. 3-D-Brillen sind im Gegensatz zur Oculus Rift transparent, deshalb haben „Caves“ den Vorteil, dass sich die Leute darin sehen können. Das erleichtert Teamarbeit. Übel wird ihnen trotzdem, sobald Bewegung in die virtuelle Welt kommt.
Heiko Hecht erforscht die „Motion Sickness“ an der Universität Mainz. Der Psychologe schätzt, dass 15 bis 20 Prozent aller Menschen betroffen sind. Frauen wird eher schlecht als Männern, älteren eher als jüngeren. Ist der Sinneskonflikt drastisch, etwa bei einer virtuellen Achterbahnfahrt, geht es fast allen Nutzern schlecht. Manchen wird ihnen erst Stunden später übel.
Eine der Ursachen für die Sinneskonflikte ist der verzögerte Bildaufbau. Bewegt der Nutzer seinen Kopf schnell, hängt das virtuelle Bild hinterher: Der Rechner muss die Perspektive aktualisieren und neue Bilder erzeugen. Das kostet Zeit, und diese Latenz verwirrt die Sinne. Forscher um Philipp Slusallek vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken entwickeln daher Raytracing-Verfahren, womit realistische Bilder schneller erzeugt werden. Dafür braucht es neue Grafikprozessoren. Hersteller wie Nvidia haben Slusalleks Verfahren bereits aufgegriffen und werden sie in die PCs bringen.
Die Psychologin Diana Reich testet im Digital Cube Test Center der TU Berlin, was man beim Eintauchen in die VR verändern muss, damit die Übelkeit zurückgeht. Das Testcenter verfügt über Fahrzeugsimulatoren mit Lenkrad, beweglichem Sitz und 3-D-Visualisierung. Der Sitz ruckelt, wenn die virtuelle Fahrbahn uneben ist; bremst der Fahrer, kippt er nach hinten. „Je realistischer die Kräfte auf den Fahrer wirken, desto weniger Übelkeit tritt auf“, sagt Reich. Auch simulierte Motor-Geräusche haben offenbar einen positiven Einfluss.
Die perfekte virtuelle Erfahrung zu schaffen, ist schwierig. Angenommen jemand bremst im Simulator und fährt zugleich in die Kurve. „Ahmt der Stuhl im Simulator nur Bremskräfte, aber nicht Fliehkräfte, nach, geht es den Leuten schlechter als wenn er überhaupt keine Kräfte simuliert“, so Hecht. Geräusche verschlimmern die Situation, wenn der Nutzer sie als störend empfindet. Angenehme Musik kann Übelkeit jedoch entgegen wirken. Motorgeräusche auch – und angenehme Düfte.
Hilfreich ist ein Fixpunkt im virtuellen Raum. Bei Oculus Rift wurde eine virtuelle Nase ins Blickfeld eingeblendet. Sie konnten 94 Sekunden länger virtuell spazieren, ehe ihnen übel wurde – allerdings verlängerte sich bei einer Achterbahnfahrt die beschwerdefreie Zeit nur um 2,2 Sekunden. Auch Training nutzt nur bedingt: Wer unzählige Male ein virtuelles Auto fährt, gewöhnt sich zwar daran. Steigt er in die virtuelle Achterbahn, wird ihm trotzdem wieder speiübel.
Dieser Text erschien in der Süddeutschen Zeitung.