Kampf um die Patientendaten
Pharmakonzerne entdecken die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz. Doch Internetriesen wie Google und Amazon machen ihnen auf dem Gesundheitsmarkt längst Konkurrenz. Einblicke in einen Wettbewerb um eine sehr wertvoll gewordene Ressource.
Die „Sense Bridge“ des Pharma-Unternehmens Novartis in Basel ist ein großer Raum mit Tischen und Stühlen, die halbkreisförmig um sechs große Bildschirme aufgestellt sind. Es sieht aus wie bei der Flugsicherung. Auf den Bildschirmen leuchten farbige Punkte, Balken, Kurven und Karten. Sie geben einen Überblick über einen Großteil der 440 klinischen Studien, die Novartis aktuell weltweit durchführt und bei denen Wirkstoffe an Patienten getestet werden. Mithilfe von Mustererkennung und maschinellem Lernen (Künstliche Intelligenz /KI) wertet das Unternehmen die gewonnenen Daten aus.
So kann es zum Beispiel auf die Ergebnisse aus insgesamt zwei Millionen Patientenjahren im Rahmen klinischer Studien zurückgreifen. Das ist der Gesamtzeitraum, in dem sämtliche Studienteilnehmer analysiert wurden: Dazu gehören Scans, Videos, chemische Daten oder Daten zu anderthalb Millionen molekularen Verbindungen. Die Sense Bridge führt bisher getrennte Informationen zusammen, gibt ihnen neuen Sinn.
Bis ein potenzieller Wirkstoff alle klinischen Studien durchlaufen hat und auf den Markt kommt, vergehen durchschnittlich zehn bis zwölf Jahre. Ein Pharma-Unternehmen kann das bis zu zwei Milliarden Dollar kosten. Etwa nur jede zehnte untersuchte Substanz erhält die Zulassung und schafft den Markteintritt. Die Sense Bridge ist eine Art Frühwarnsystem, die Technik zahlt sich aus. „Wir sehen auf einen Blick in Ampelfarben den gegenwärtigen Stand jeder Studie, und die KI prognostiziert ihren weiteren Verlauf“, sagt Michael Bartlett, Leiter der Studiendurchführung Klinische Strategie. „Rot bedeutet ein hohes Risiko, dass der Zeitplan nicht eingehalten wird. Bei Grün läuft alles gut, Gelb ist irgendwo dazwischen. Wir können bei jeder Studie tief in die Daten hineinzoomen, bis wir die Ursachen für die Probleme ausfindig machen.“ Außerdem schlage die KI etwa für eine geplante Studie eine passende Patientengruppe vor, die auf einen Wirkstoff besonders anspringen könnte, sowie Länder, in der vergleichbare Studien gut funktioniert haben.
Der Hype um KI war lange Zeit an der Pharmabranche vorbeigegangen, aber seit Projekte wie die Sense Bridge sich unmittelbar auf Forschungserfolge, Studienzeiten und den Umsatz auswirken, dreht sich zumindest bei einigen Unternehmen alles um digitale Daten. Novartis will zum Datenkonzern werden, Hoffmann-La Roche verfolgt eine ähnliche Strategie. Die Branche ist nervös geworden, seit IT-Konzerne wie Google, Amazon, Apple, Microsoft oder IBM sich den Gesundheitsmarkt vorgenommen haben. Diese Firmen haben KI-Algorithmen marktreif gemacht und verfügen über die nötige Technik. Noch fehlen diesen Konzernen allerdings Gesundheitsdaten und Medizinkompetenzen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie beides haben. Dann wollen sie die Pharmagrößen in die zweite Reihe im Gesundheitsbereich verweisen.
Der Markt ist attraktiv. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2017 beim Spitzenreiter USA 17,9 Prozent, in Deutschland 11,5 Prozent. Aber das Geld wird in Zukunft immer weniger mit Medikamenten und radiologischen Geräten verdient werden, sondern mehr mit Software und Daten. KI unterstützt zum Beispiel Diagnosen und Therapien. KI-basierte Patienten-Apps dokumentieren die Medikamenteneinnahme, Symptome und Nebenwirkungen oder geben Tipps zum Umgang mit Krankheiten. Gesundheits-Apps wie WebMD, Medisafe oder Ada Health (siehe auch brand eins 06/2018: „Was fehlt mir?“) sind stark im Kommen.
Die Pharma-Unternehmen sind bei dem Thema nun genauso offensiv wie die IT-Konkurrenz. Hoffmann-La Roche entwickelte beispielsweise ein digitales Tumor-Board, das für jeden Patienten Daten aus diversen Fachgebieten verbindet, die Ärzte bei der Entscheidung für eine Therapie benötigen. Onkologen sollen damit innerhalb von Minuten überblicken, wofür sie früher eine Stunde brauchten. Von einem Wettbewerb mit IT-Unternehmen will man in der Branche dennoch nicht sprechen. „Wir sehen vor allem Chancen für neue Anwendungen, keinen Konkurrenzdruck“, sagt Achim Plückebaum, Leiter des Zukunftsprojekts „Data42“ bei Novartis. Aber er räumt ein: „Wir sprechen hier natürlich über Datenwissenschaften, und die IT-Firmen haben diese Kompetenz. Aber die Daten und die Kompetenz in der Molekularforschung haben wir. Mit diesem Vorteil können wir neue Ansätze in der Medizin etablieren.“
Diese neuen Ansätze haben eines gemein: Sie benötigen sehr viele Daten. Ob es um Diagnosehilfe, Wirkstoffforschung, Studienmanagement oder Patienten-Apps geht – KI-Algorithmen basieren auf Logik und Statistik. Sie können in der Diagnostik kranke Menschen nur dann von gesunden unterscheiden, wenn sie über beide möglichst viele Informationen haben. Die Algorithmen suchen nach einem Muster, das den Unterschied zwischen krank und gesund ausmacht. Die Entwickler von KI wissen oft nicht, welches Muster dies ist, die KI kann sich im Bereich des maschinellen Lernens selbst optimieren. Forscher geben oft nur Daten ein, prüfen die Ergebnisse und legen fest, ab wann sie aussagekräftig sind.
„Die Algorithmen über Daten laufen zu lassen ist das Leichteste“, sagt Regina Barzilay, Professorin am Massachusetts Institute of Technology und Pionierin bei der Nutzung maschineller Lernverfahren in der Brustkrebsprognose. „Das Haupthindernis in unserer Forschung ist in der Tat die mangelnde Verfügbarkeit von qualitativen Daten in großen Mengen.“
Die großen Durchbrüche in der KI gab es zuerst in der Bild-Erkennung, weil ab 2009 mit dem Imagenet ein öffentlicher Datensatz entstand. Er enthält aktuell mehr als 14 Millionen Bilder von alltäglichen Objekten, die freiwillige Mitwirkende mit Metadaten wie „Tasse“ oder „Bleistift“ beschrieben haben.
Mit diesen Daten machte die Forschung innerhalb weniger Jahre immense Sprünge. Die KI brachte sich mithilfe von Deep Learning selbst bei, sich zu verbessern. Sie lernte Muster in unzähligen Beispielbildern zu erkennen und so Tassen und Bleistifte auf ihr bisher unbekannten Bildern zu identifizieren.
In der Medizin sind solche Datensätze nicht verfügbar. Gäbe es sie in großen Mengen zum Beispiel zu verschiedenen Stadien von Tumorerkrankungen, könnte man den Tumor eines neuen Patienten mithilfe von KI besser klassifizieren. „Es gibt diese Datensätze, aber nur eine Handvoll Forscher haben den Zugang“, sagt Barzilay. „Auch wenn diese Leute brillant sind, sind es zu wenige. Öffnete man die Datensätze für alle, würden wir immens viel erreichen.“ Die Pharmakonzerne gehören zu den Hütern der Daten, die für sie ein exklusiver Rohstoff sind.
Einige Forschungseinrichtungen bauen bereits große Datenbanken auf. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn führt etwa eine Studie durch, für die bis zu 30 000 Menschen mittleren Alters aus dem Rheinland insgesamt rund acht Stunden lang medizinisch durchgecheckt werden – und zwar alle drei bis vier Jahre, über mehrere Jahrzehnte hinweg. Das Ziel ist eine umfassende Sammlung mit Gesundheitsdaten von einem Querschnitt der Bevölkerung. Einige der Teilnehmer werden wahrscheinlich später eine sogenannte neurodegenerative Krankheit bekommen wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson. Die Forscher können mithilfe von KI möglichst früh im Leben der Studienteilnehmer Unterschiede zwischen den Kranken und Gesunden finden.
„Bei neurodegenerativen Erkrankungen konzentrierte sich die Forschung lange auf die Eiweißablagerungen im Gehirn“, sagt Joachim L. Schultze, Genomforscher am DZNE. „Inzwischen wissen wir, dass Immunzellen die Erkrankung beschleunigen, aber die Ursachen für die Krankheiten kennen wir immer noch nicht.“ Je mehr Daten vorliegen, desto eher können sie gefunden werden. „Wir hören oft Klagen, dass wir zu viele Daten sammelten“, sagt er. „Aber wir brauchen sie, denn sie sind ein Schlüssel zu besseren Therapien. Sobald die Symptome von Alzheimer auftreten, ist ein großer Teil der Nervenzellen degeneriert. Deshalb muss die Behandlung früher ansetzen, zur Zeit der Krankheitsentstehung.“
Da die Forscher nicht wissen, wonach sie suchen, erfassen sie nicht nur Blut- und Speichelproben sowie Gehirn-Scans, sondern auch Daten zum Lebensstil. Denn auch hier haben sie ein großes Defizit. Ernährung, sportliche Aktivitäten, Umwelteinflüsse oder der tägliche Stresspegel eines Menschen – Informationen darüber besitzen eher die IT-Konzerne.
Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass es einem Unternehmen wie Amazon ganz recht wäre, wenn seine Kunden im Falle eines Unwohlseins nicht gleich einen Arzt aufsuchten, sondern Amazons digitale Assistentin Alexa konsultierten. Die kennt idealerweise sowohl die medizinische Geschichte des Kunden als auch seine Lebensgewohnheiten. Sie stellt ihm Fragen und schlägt eine Diagnose vor. Wenn es nichts Schlimmes ist, kann sie ihm über Amazon ein rezeptfreies Medikament liefern, womöglich eins, das der Konzern selbst produziert.
Bislang ist das Spekulation. Amazon ist jedoch dabei, ein Fachteam aufzubauen, das sich mit Digital Health auskennt, der interdisziplinären Verbindung von Gesundheit und digitaler Technik. Das Unternehmen hat Maulik Majmudar angeworben, Kardiologe und Dozent in Harvard. Außerdem Martin Levine, ehemals Iora Health, Gesundheitsdienstleiter und Anbieter einer digitalen Patientenplattform. Dabei ist auch Taha Kass-Hout, der für die US-Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde als Führungskraft für Informationstechnik tätig war.
Die treibende Kraft dahinter ist Amazons Vizepräsident Babak Parviz. Er ist Doktor der Elektrotechnik und außerordentlicher Professor an der Universität von Washington. Vor einigen Jahren entwickelte er eine Kontaktlinse, die Gesundheitsdaten des Trägers erfasst, etwa den Glukosewert. Bei Amazon sieht er das größte Potenzial in der Spracherkennung, also in Alexa. Der Konzern hat im Jahr 2017 zum Beispiel mit dem Pharma-Unternehmen Merck & Co. einen Wettbewerb ausgeschrieben, um eine sogenannte Alexa Skill für Diabetes-Patienten zu initiieren.
Eine Skill ist vergleichbar mit einer App für Smartphones, nur dass sie rein sprachlich funktioniert. Da mehr als 400 Millionen Menschen weltweit unter Diabetes leiden, könnte eine solche Anwendung dem US-Konzern viel zusätzliche Kundschaft bescheren. Die Alexa Diabetes Challenge war mit einem Preisgeld von 125 000 US-Dollar dotiert. Ein Teilnehmer, das Start-up Glooko, reichte ein Programm ein, das Patienten regelmäßig fragt, was sie gegessen und ob sie ihr Medikament eingenommen haben. Die Patienten sollen damit ihre Krankheit in den Griff bekommen – und Amazons KI würde jede Menge Trainingsdaten aus der Medizin erhalten.
Aber das reicht einem Konzern nicht, der gern alles anbietet. Deshalb verkauft er erste Gesundheitsprodukte unter der Eigenmarke „Basic Care“, darunter rezeptfreie Medikamente wie Ibuprofen. Amazon investierte zudem in die Firma Grail, die genetische Informationen von Krebspatienten sammelt. Sie ist auf Next Generation Sequencing spezialisiert, ein genanalytisches Verfahren, mit dem sich DNA-Moleküle parallel sequenzieren lassen – was immens viel Zeit spart. Grail plant, Hunderttausende von Genomdaten auszuwerten. Amazon hofft, dass Grail für diese großen Datenmengen die Amazon Web Services nutzt. Das amerikanische Nationale Krebsinstitut speichert seine 2,6 Petabyte an Genomdaten von Krebspatienten bereits in der Google Cloud – zum Preis von etwa 19 Millionen US-Dollar.
Alphabet, der Mutterkonzern von Google, ist ebenso umtriebig. Sein Forschungsteam veröffentlicht regelmäßig Studien, die Anwendungen für Deep Learning in der Medizin demonstrieren. Die Technik soll zum Beispiel prognostizieren, wie lange Patienten im Krankenhaus bleiben und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie nach der Entlassung noch einmal zurückkehren müssen.
Die Alphabet-Tochter Calico nutzt KI, um Alterungsprozesse und altersbedingte Krankheiten zu erforschen. Das ebenfalls zur Holding gehörende Unternehmen Deepmind verzeichnete erste Erfolge bei der Prognose von Proteinstrukturen. Die Algorithmen berechnen, welche Gensequenz welche Struktur produziert, und erstellen daraus dreidimensionale Modelle. Dies wäre, sobald es zuverlässig funktioniert, ein immenser Fortschritt und die Basis für neue Wirkstoffe.
Auf den ersten Blick unterscheiden sich die vielen Ansätze und die damit möglichen Geschäftsmodelle, aber das Prinzip ist immer gleich: Daten müssen gesammelt, gekauft oder neu aufbereitet werden, damit digitale Technik darin Muster erkennen kann. Die chinesische Alibaba Group, ebenfalls Vorreiter in der KI-Forschung, tat sich beispielsweise im Frühjahr mit L’Oréal zusammen, um eine mobile Testanwendung für Akne zu lancieren.
Und darin zeigt sich der dritte Nachteil der Pharmabranche. Li Ma, Vizepräsident für Strategie und Investitionen bei Alibaba Health Information Technology, sagt: „Viele Pharmafirmen versuchen jetzt ebenfalls, Patienten einzubeziehen. Es ist jedoch schwierig, weil sie nicht genau wissen, wer ihre Patienten sind.“ Die nehmen zwar Medikamente ein, aber für Umsatz in der Branche haben bislang vor allem die Ärzte gesorgt. Das ändert sich mit der digitalen Medizin – ihre Umsatztreiber sind die Patienten oder Konsumenten, die gesund bleiben wollen. Amazon und Google sind längst bei ihnen zu Hause – und greifen ihre Daten ab. Den Pharma-Unternehmen hingegen fehlt der Zugang.
„Für sie gab es nie den Druck, die Patienten kennen zu müssen“, sagt Jan Ising, Leiter des Geschäftsbereichs Life Science bei Accenture. „Die Pharmabranche muss nun erst mal Angebote aufbauen, auch über strategische Partnerschaften innerhalb eines neuen Ökosystems. Zu lange hat sie sich auf ihrer Kompetenz ausgeruht.“
Die Erkenntnis, dass Pharmafirmen zu serviceorientierten Unternehmen werden müssen, ist bei ihnen erst in den vergangenen zwei Jahren gewachsen. Ising sagt: „Die Geschäftsführer begreifen jetzt, dass Arzt und Patient digital geworden sind. Der Patient führt ein digitales Leben, und das müssen die Unternehmen aufgreifen, wenn sie ihn erreichen wollen, sonst verlieren sie ein großes Geschäft.“
Dieser Text erschien in brand eins.