Die Seele auf der Bühne

Schauspieler erzeugen auf Knopfdruck Emotionen. Psychologen erforschen, wie sich das auf die Psyche der Darsteller auswirkt – und ob sich diese Fähigkeit in Therapien nutzen lässt.

Joe ist 17 und hat wenig Perspektiven. Sie lebt in der brandenburgischen Provinz. Die Mauer ist längst gefallen. Der Vater ist tot, ihre Mutter mit dem Leben überfordert. Joe kann sich auf nichts verlassen. Sie verliert wegen ihrer ruppigen Art einen Job nach dem anderen. Nur im Boxring findet sie zu sich selbst. Dort erkämpft sie sich die Freiheiten, die ihr im Leben bislang fehlten, obwohl die Männer im Boxclub sie hassen und mobben.

Die junge Frau, die viel einstecken muss und sich trotzdem durchbeißt, ist eine Figur aus dem Film Die Boxerin von 2006. Verkörpert wird sie von der Schauspielerin Katharina Wackernagel. Joe ist ganz anders als die private Katharina Wackernagel. Trotzdem wirkt Joe authentisch. Ihre Gefühle wirken echt. Aber sind sie es auch? Können Schauspieler vor der Kamera nach Belieben Gefühle abrufen?

Die psychologische Forschung hat sich bislang wenig mit der Schauspielerei beschäftigt. Das ändert sich allmählich. Die Psychologin Thalia Goldstein von der Pace University in New York erforscht unter anderem, wie Schauspieler Emotionen kreieren, was sie dabei empfinden und wie sie nach dem Spiel aus der Rolle aussteigen. Goldsteins Forschungen stehen am Anfang. Aber sie hofft, eines Tages besser zu verstehen, wie Menschen generell Gefühle erzeugen und wahrnehmen. „Darsteller nutzen schon länger Erkenntnisse der psychologischen Forschung, um ihre Charaktere realistisch darzustellen“, sagt Goldstein. „Es ist an der Zeit, das nun umgekehrt die Forschung die Bühne betritt – und dort etwas lernt.“

Tatsächlich haben Schauspieler viel zu erzählen, wenn es um das Spiel mit den Gefühlen geht. Was Schauspieler empfinden, hängt davon ab, wie viel die Rolle mit dem eigenen Leben zu tun hat und wie sie sich auf eine Rolle vorbereiten. Um Joe glaubwürdig darzustellen, ging Katharina Wackernagel in einen echten Boxclub. „Das Training war für mich etwas Besonderes“, sagt Wackernagel. „Ich kam mit Leuten aus einem Milieu in Kontakt, zu dem ich im normalen Leben überhaupt keinen Bezug habe.“ Sie trainierte mit der Boxerin Thurid Doß. Von Thurid hat sich die Schauspielerin inspirieren lassen – von der Art, sich zu bewegen und zu reden. Joe redet ruppig. Ihre Körperhaltung erinnert an einen Rammbock, als wolle sie Wände durchschlagen. Katharina Wackernagel sagt: „Natürlich kriegt sie Schauspiel viel aufs Dach. Sie weiß erst einmal nicht genau, wo sie hin will. Aber ihre Stärke ist ihre unbändige Kraft, die sie mobilisieren kann.“

Solche Figuren bleiben hängen. „Die Joe ist eine Rolle, die mir nach den Dreharbeiten gefehlt hat“, sagt Wackernagel. Joe sei richtig zum Leben erwacht. „Das war ein eigenartiges Gefühl: dass ich eins geworden bin mit der Figur und trotzdem nicht sie war.“ Wackernagel weiß nicht, ob sie damals Joe am Ende eines Drehtages abgelegt hat. „Irgendwie hat sie mich die ganze Zeit intensiv begleitet. Als der Film schließlich abgedreht war, war es, als habe ich eine Freundin verloren – oder einen Teil von mir.“

Die Arbeit an der Boxerin hat in Katharina Wackernagel etwas ausgelöst, von dem sie nicht wusste, dass sie es in sich trug: Sie hat mehr Kraft und weniger Angst. „Als ich anfing zu trainieren, habe ich immer versucht, nicht zuzuschlagen“, sagt sie. „Bis ich irgendwann mal Deckung nahm und richtig draufhaute. Das war erst einmal irritierend. Ich träumte nachts davon, dass ich jemanden schlage und geschlagen werde.“ So etwas sei ihr noch nie passiert. „Es war schließlich ein Riesenschritt, diese Hemmungen zu überwinden. Als ich in früheren Dreharbeiten meinen Film-Ehemann schlagen sollte, musste ich die Szene mehrmals wiederholen, weil ich so zurückhaltend war und alles ungelenk aussah. Das ist seit der Boxerin vorbei.“ Wackernagel lernte, wie Joe auf ihre Kraft zu vertrauen. Sie verstand, wie sie sich wehren konnte. „Das hat mir privat geholfen. Ich war als Jugendliche immer ängstlich und bin ungern im Dunkeln nach Hause gegangen. Seit ich Joe gespielt habe, scheine ich mehr Stärke auszustrahlen. Ich werde nicht mehr blöd angequatscht.“

Katharina Wackernagel verband mit Joe in erster Linie positive Gefühle. Sie weiß, dass es auch umgekehrt geht – dass negative Gefühle ausbrechen können. Sie selbst hat es noch nicht erlebt, aber sie kennt es aus ihrer Familie. Wackernagel wuchs unter Künstlern auf: Der Vater ist Regisseur, der Onkel und die Großmutter sind Schauspieler, ihre Mutter ist die Schauspielerin Sabine Wackernagel. Sabine spielte oft am Theater. Manche Rollen nahmen sie sehr mit. „Das hing manchmal mit den Produktionsbedingungen zusammen, aber auch den Inhalt konnte sie nicht immer leicht abschütteln“, sagt Katharina. Ihre Mutter spielte zum Beispiel in dem Stück Verbrennungen von Wajdi Mouawad mit, das die sinnlose Gewalt im Nahen Osten thematisiert. „Das war für meine Mutter wahnsinnig belastend. Jede Vorstellung war für sie ein Kampf durchzuhalten, weil das Stück so traurig war.“

In der Geschichte der Schauspielerei kam dem Innenleben der Charaktere lange Zeit keine große Bedeutung zu. Im antiken Griechenland war das Schauspiel extrem stilisiert. Die Darsteller trugen Masken mit Grimassen. Erst im elisabethanischen England kamen allmählich die inneren Seelenzustände der Charaktere auf die Bühne – oft als Monolog, der sich an das Publikum richtete. Mit dem Naturalismus hielt Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Schauspieltechnik Einzug in das Theater, die auch im späteren Film vorherrschen sollte. Zuvor erschlossen sich die Darsteller ihre Rollen von außen nach innen. Sie arbeiteten an ihrem Körper, an Gestik und Mimik, um einen Charakter auszugestalten. Die neuere Methode ging von innen nach außen vor.

Müssen Schauspieler aus ihren eigenen Erinnerungen schöpfen?

Sie wurde von dem russischen Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislawski eingeführt. Stanislawski lehrte seine Schüler unter anderem, die Emotionen für eine Figur tief in sich selbst zu suchen und für die Rolle zu aktivieren. Der Schauspiellehrer Lee Strasberg entwickelte daraus das method acting – eine Methode, die in Hollywood bis heute populär ist. Was bei Stanislawski nur eines von vielen Werkzeugen war, wurde bei Strasberg zum Dogma: Schauspieler sollen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen Emotionen aus ihrer persönlichen Erinnerung abrufen. Darsteller wie Al Pacino, Robert de Niro und Johnny Depp behaupten, dass sie auf diese Weise arbeiten.

Strasbergs Lehre ist jedoch umstritten. Schon Stanislawski bemerkte, dass die Technik bei den Darstellern oft zur Erschöpfung führt. Hinzu kommt, dass manche Rollen für einen Darsteller unspielbar sind, wenn er sich an das Dogma hält und keine passenden Erinnerungen in sich findet. „Allerdings sollte man bei Strasbergs Methode bedenken, dass sie auch immer eine Art Marketing für Hollywood war“, sagt Jochen Kiefer, Leiter des Studienbereichs Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste. „Zuschauer sind von der Vorstellung fasziniert, dass Stars mit einer Figur verschmelzen. Aber ich denke nicht, dass das wirklich geschieht. Wenn zum Beispiel ein Schauspieler behauptet, er sei wochenlang zur Vorbereitung einer Rolle in der Psychiatrie gewesen, heißt das nicht, dass er nachvollziehen kann, was in einem Patienten vor sich geht. Er hat lediglich das gemacht, wozu Schauspieler prädestiniert sind: Andere Menschen mit Empathie zu beobachten.“

Das macht auch der Schweizer Schauspieler Stefan Kurt, der durch die Hauptrolle in Dieter Wedels Mehrteiler Der Schattenmann bekannt wurde. Er sieht sich nicht in der Tradition von Stanislawski. Stefan Kurt sagt: „Ich arbeite eher von außen nach innen. Ich stelle mir zum Beispiel ein Tier vor oder schaue mir andere Menschen an und übernehme ihre Art, sich zu bewegen und zu verhalten. Ich arbeite dann Schicht um Schicht die Gefühle in sie hinein.“ In der Filmtriologie Dreileben spielte Kurt 2011 zum Beispiel den verurteilten Sexualstraftäter Frank Molesch, der aus einer Klinik flieht und sich zunächst in einem Wald verschanzt. Auf der weiteren Flucht findet Molesch heraus, dass er von seiner wahren Mutter zur Adoption freigegeben wurde.

Für Dreileben schaute Kurt sich einen Dokumentarfilm über einen Menschen an, der sein Leben lang an etwas Falsches glauben musste. Der Mann wuchs in der Colonia Dignidad in Chile auf. Die Kolonie wurde von einer Sekte gegründet. Der Mann kam als kleines Kind zur Sekte und kannte nichts anderes als diese Welt. Für ihn war Paul Schäfer, der deutsche Sektenführer, ein Idol. Erst als Schäfer 2006 wegen Kindesmissbrauchs ins Gefängnis kam, wurde dem Mann bewusst, wie falsch und grausam sein Idol war. Stefan Kurt sagt: „Ich habe mir diesen Film immer wieder angesehen und die Gedankengänge und die Körperlichkeit dieses Menschen für Molesch adaptiert.“

Jochen Kiefer behauptet, dass professionelle Schauspieler ihre Gefühle unter Kontrolle haben – dadurch unterschieden sie sich von Laien. „Ich bin nicht sicher, ob das mit der Kontrolle stimmt“, sagt Stefan Kurt. „Es kommt immer darauf an, in dem Moment des Drehens da zu sein. Meine Biografie, die Tagesform – das alles kommt in diesem Moment zum Tragen. Ich kann das nur bedingt kontrollieren.“ Ein Künstler muss loslassen können. „Ich stehe da und habe den Text gelernt. Ich weiß alles über eine Rolle, was ich wissen muss – aber trotzdem ist es jedes Mal schwierig, loszulassen und einfach nur noch die Figur zu sein. Wenn man gestresst und unsicher ist, spult man alles nur ab und erzwingt Emotionen herbei, die nicht echt sind.“

Sind die Gefühle vor der Kamera also echt? Jochen Kiefer und der Neuropsychologe Hennric Jokeit vom Schweizerischen Epilepsie-Zentrum in Zürich baten einige Schauspieler, darunter Stefan Kurt, sich beim Spiel ins Gehirn schauen zu lassen. Das Forschungsprojekt heißt „Spiel mit den Gefühlen“. Die Forscher wollten herausfinden, ob unterschiedliche Schauspieltechniken unterschiedliche Gehirnregionen aktivieren. Die Darsteller probten ein Stück ein – erst von innen nach außen, sechs Wochen später von außen nach innen. Dann legten sie sich in ein Gerät zur Magnetresonanztomografie (MRT), dachten sich in die Figur ein und spielten die Rolle mit Sprache und Fantasie. Ihren Körper konnten sie in dem MRT-Gerät nicht einsetzen.

Schauspieler konstruieren Gefühle im Moment ihres Abrufs

Die Ergebnisse sind noch nicht publiziert, doch die ersten Erkenntnisse sind eindeutig. „Tatsächlich können wir nachweisen, dass die Schauspieltechniken unterschiedliche Gehirnareale aktivieren, die zudem ein eindeutiger Indikator für Affekte sind“, sagt Hennric Jokeit. „Die Darsteller haben während des Spiels also echte Emotionen, sie simulieren sie nicht nur.“ Bei der Technik von innen nach außen sind weite Regionen beider Gehirnhälften aktiviert. „Der Zustand ähnelt dem einer Meditation“, sagt der Forscher. Bei der körperlichen Technik bilden sich die mentale Repräsentation der Umwelt und die Vorstellung von Bewegung im Aktivierungsmuster der Großhirnrinde ab. Das Gehirn reagiert auf den imaginären Raum und die Interaktion mit einem imaginären Gegenüber, als wären beide echt. Jochen Kiefer sagt: „Das zeigt uns, dass das Schauspiel kein abgespeicherter Persönlichkeitsanteil ist, der hochkommt. Die Gefühle werden in dem Augenblick konstruiert, in dem sie gespielt werden.“

Echte Gefühlsregungen lassen sich demnach zumindest teilweise steuern. Dass durch Rollenspiele überhaupt Gefühle ausgelöst werden, ist hingegen schon länger bekannt. Therapeuten nutzen diesen Effekt zum Beispiel im sogenannten Psychodrama. Das Psychodrama ähnelt zunächst einem Schauspiel, bei dem Patienten eine Situation, die sie aktuell belastet, auf eine Bühne bringen. Ulrike Fangauf, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Vorsitzende des Deutschen Fachverbands für Psychodrama, erklärt das Konzept am Beispiel einer Patientin, die unter einer depressiven Störung leidet. Die Frau hatte ihre Eltern eingeladen, am Tag der offenen Tür ihren neuen Arbeitsplatz zu besichtigen. Doch die Eltern, die in einer anderen Stadt wohnen, kamen nicht. Dem Vater ging es nicht gut. Die Tochter fühlte sich durch die Absage allein gelassen.

„Wir konstituieren diese Situation nun auf einer fiktiven Bühne“, sagt Fangauf. In der Therapiesitzung stellt die Patientin Symbole für ihre Eltern auf. „Schon wenn die Patientin die Symbole positioniert, ist sichtbar, wie nah oder weit entfernt sie ihren Eltern ist.“ Dann spielt die Patientin ein Telefonat mit dem Vater nach. Darin konzentriert sie sich auf ihren Wunsch, ihren Eltern den Arbeitsplatz zu zeigen. Dadurch soll sie ein Gespür für sich selbst bekommen. Das nachgespielte Telefonat mit der Absage des Vaters ermöglicht der Patientin, ihren Ärger wahrzunehmen – etwas, was sie im realen Telefonat verdrängt hatte. Im zweiten Schritt schlüpft die Patientin in die Rolle des Vaters. Mit dem Rollenwechsel muss die Patientin die räumliche Position und die Sichtweise wechseln. Ein hilfreicher Prozess: In ihrer Wahrnehmung der Eltern dominiert ein Bild, das die Patientin als Kind gewonnen hat. „Durch den Rollentausch wird diese Wahrnehmung aktualisiert und dadurch realistischer“, sagt Fangauf. Die Empathie wird gefördert. Die Patientin lernt, sich in ihren Vater hineinzuversetzen, und erkennt, dass dessen Standpunkt nicht unbedingt gegen sie persönlich gerichtet ist. Das entschärft die inneren und äußeren Konflikte. Eine neue Sichtweise wird möglich.

Kleinigkeiten können die innere und äußere Haltung verändern

Das Psychodrama wird auch in Gruppentherapien eingesetzt. Ein Patient sucht sich dann die Mitspieler aus der Gruppe selbst aus. Die Mitspieler übernehmen die Rollen der Antagonisten – Eltern, Geschwister, Freund – und denken sich gemeinsam in eine Szene hinein, etwa in ein Familienfest. Die Antagonisten spielen ihre Rolle so, wie sie diese empfinden. Passt das Spiel nicht zu den realen Vorbildern, korrigiert es der Patient, und die Szene wird wiederholt. „Es ist oft erstaunlich, wie real die Antagonisten ihre Rolle nachempfinden“, sagt Fangauf. Ein Gruppenmitglied spielte zum Beispiel den Großvater einer Patientin. Sie hatte nur grob dessen Verhalten beschrieben. Der Mann, der den Großvater darstellte, sagte hinterher, er könne nicht mehr gut sitzen, weil sein Bein eingeschlafen sei. Was er während des Spiels nicht wusste: Der reale Großvater hatte ein Holzbein. Unbewusst hatte der Darsteller im Spiel dessen Haltung angenommen.

Dieser Effekt funktioniert auch umgekehrt. Oft reicht eine bestimmte Körperhaltung oder ein fremdes Kleidungsstück am Körper, um in Menschen etwas auszulösen. Die Arme hoch, die Brust raus – schon verändern sich die äußere und innere Haltung. „Die Kortisonwerte sinken, die Testosteronwerte gehen hoch. Die Menschen fühlen sich mächtiger und verhalten sich entsprechend“, sagt die Psychologin Thalia Goldstein. Stefan Kurt kennt das. „Manchmal reicht es, wenn ich die Schuhe von anderen Menschen anziehe. Es ist verrückt, wie man automatisch seinen Gang anpasst und wie sich dabei die Gefühle verändern.“ Katharina Wackernagel hat das Phänomen bei der Boxerin erlebt. „Privat trage ich eher hohe Schuhe und Röcke, als Joe hatte ich einen Wollpullover und ausgelatschte Turnschuhe an, in denen ich oft nach innen wegknickte. Aber das alles passte plötzlich wunderbar zusammen: die Haltung, die Klamotten, das Verhalten, die Gefühle.“ Die Figur formt sich ein Stück weit von allein.

Die Requisiten tragen ebenfalls dazu bei, dass Menschen sich umgehend in eine imaginäre Welt hineindenken können oder in eine Situation aus der eigenen Vergangenheit. Im Psychodrama helfen oft kleine Raumveränderungen, um eine Szene plastisch wirken zu lassen und starke Erinnerungen hervorzurufen. Fangauf erzählt zum Beispiel von einem Patienten in einem Krankenhaus: Er sollte sich vorstellen, seinen Vater im Café zu treffen, wie er es einige Tage zuvor getan hatte. Die Therapeuten stellten als Café einen Tisch und zwei Stühle hin, alles andere passierte in der Fantasie. Sie fragten, was der Vater als Erstes gesagt hatte. Der Patient näherte sich dem Tisch. Er brachte nur ein „Er sagt …“ heraus und brach weinend zusammen. Die Erinnerung an die Begegnung mit dem Vater war schlagartig lebendig und auch die damit verbundene Kränkung. Der Vater, der den Sohn seit früher Kindheit immer wieder demütigte, hatte zur Begrüßung abschätzig gesagt: „Wie siehst du denn wieder aus!“

Tagsüber: Dreh im Krankenhaus. Und am Feierabend?

Die Gefahr von heftigen Gefühlsausbrüchen besteht grundsätzlich auch beim Schauspiel. Fangauf hat eine solche Szene bei Proben an einem Theater in Bremen erlebt: Ein Schauspieler stand auf der Bühne. Jemand näherte sich ihm aggressiv von hinten. Der Darsteller reagierte panisch. Er erinnerte sich an seine Kindheit in einem Kinderheim, in dem er von hinten angegriffen worden war. „So etwas kann Schauspielern passieren, wenn sie etwas Unerledigtes in sich tragen, was durch die Rolle aktiviert wird“, sagt Fangauf.

Bei Dreharbeiten zu einem Film sind die Requisiten realistischer als auf der Bühne. Regisseure drehen gerne an realen Orten. „Ich habe grundsätzlich keine Probleme, die Rolle abzuschalten und Feierabend zu machen“, sagt Stefan Kurt. „Trotzdem kommt es vor, dass mich Rollen abends beschäftigen. Wenn ich zum Beispiel einen krebskranken Menschen spiele, ist das Thema stets präsent. Wir drehen im Krankenhaus, wir beschäftigen uns ständig damit – das hat natürlich Einf luss auf die Stimmung.“ Katharina Wackernagel sagt, dass sie sich am Set so schnell in eine Rolle einfindet, dass sie sich manchmal irrational darüber aufregen kann, wie ein Kollege sich verhält. „Das irritiert mich. Ich muss ständig überprüfen, wieso ich mich gerade ärgere. Das passiert zum Beispiel, wenn ein Kollege noch etwas zu der kommenden Szene sagen möchte, während ich in der Figur schon drin bin. Ich unterstelle ihm unbewusst, dass er mich rauslavieren will.“ Das liege an ihrer Arbeitsweise. „Ich probiere gerne Sachen aus, während andere lieber über die Szene erst einmal sprechen möchten. Ich habe dann sozusagen schon eine andere Temperatur.“

Im Psychodrama verändern Menschen ihre Selbstwahrnehmung, wenn sie sich selbst spielen. Im Film kann es hingegen fatal sein, wenn Darsteller auf Figuren abonniert sind, die ihnen sehr ähnlich sind. Thalia Goldstein sagt: „In den USA spreche ich gelegentlich mit Castingexperten. Für sie ist es einfacher, eine Rolle mit einem Darsteller zu besetzen, der der Figur sehr ähnlich ist. Sie müssen nicht erst herausfinden, ob der Darsteller passen könnte. Für die ist es aber schwierig, aus der Rolle wieder auszusteigen.“ Die Zuschauer erwarten, dass der Darsteller seinem Filmcharakter ähnelt – ohne menschliche Launen und Schwächen. Das belastet den Darsteller. Er hat das Gefühl, er müsse seine Rolle privat weiterspielen.

Anders ist es, wenn die Rolle von der Persönlichkeit des Darstellers weit entfernt ist. Im Film Herbstkind (2012) spielte Katharina Wackernagel eine Hebamme, die ein Kind bekommt und in eine postnatale Depression verfällt. In der Vorbereitungszeit traf sich Wackernagel mit Hebammen, las Bücher und schaute sich Dokumentarfilme an. Das Spiel löste aber keine negativen Gefühle in ihr aus. „Ich habe mich nie schlecht gefühlt. Die Frau war sehr viel weiter von mir weg als die Boxerin. Das Gefühl, ein Kind nicht lieben zu können, ist mir fremd.“ Sie spielte die Figur allein mithilfe ihrer Vorstellungskraft.

Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ohne einen biografischen Bezug zu finden, lässt Forscher wie Thalia Goldstein annehmen, dass professionelle Schauspieler besser darin sind, Empathie zu anderen Menschen zu empfinden. Um herauszufinden, ob das stimmt, machte Goldstein ein Experiment mit Kindern zwischen 7 und 14 Jahren. Sie teilte die Kinder in zwei Gruppen ein: Einige Kinder nahmen ein Jahr lang an Schauspielkursen teil, die anderen entweder an Musik- oder Malunterricht. Das Empathieempfinden wurde zu Beginn und am Ende der Kurse in Experimenten überprüft. Die Kinder sollten zum Beispiel Filmausschnitte anschauen und die Charaktere sowie ihre Gefühle einschätzen. „Die Kinder aus der Schauspielgruppe hatten nach einem Jahr tatsächlich ihr Empathieempfinden verbessert“, sagt Goldstein. Sie schnitten bei den finalen Tests besser ab. Goldstein will weitere Experimente durchführen, um diese Tendenz zu überprüfen.

Der Neuropsychologe Hennric Jokeit vermutet ebenfalls, dass Schauspieler mehr Empathie empfinden. Falls sich das bestätigt, hätten die Forscher erstmals ein Modell für Empathie gefunden. Sie wüssten dank der Schauspieler, welche Gehirnareale bei Empathie aktiviert sein müssen. Damit könnten sie besser Störungsursachen bei Patienten verstehen, denen diese Fähigkeit fehlt. „Einige Epilepsiepatienten etwa haben Schwierigkeiten einen sozialen Fauxpas zu erkennen, emotionale Gesichtsausdrücke oder die Sprechmelodie zu deuten“, sagt Jokeit. „Wir kennen das von Patienten, die einen Schlaganfall oder ein Schädeltrauma erlitten haben. Die Partner dieser Patienten kommen mit dem Mangel an Empathie nicht gut zurecht. Er ist belastender als ein Rollstuhl.“

Um die Empathie zu trainieren, reicht es laut Jokeit nicht, den Patienten Fotos mit emotionalen Gesichtsausdrücken vorzulegen, wie das teilweise gemacht werde. „So etwas lernt man nur im direkten Kontakt mit anderen Menschen“, sagt er. „Es braucht ein Pingpong – ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Menschen, um wieder ein Gespür für die Gefühle des anderen zu bekommen.“ Vielleicht könnten Schauspieler bei der Therapie helfen. Sie üben in der Schauspielschule schließlich gezielt Gestik, Mimik oder Sprechinteraktion. „Damit sind Schauspieler eigentlich die idealen Übungspartner für unsere Patienten“, sagt Jokeit.

Zwischen Forschung und Schauspielkunst könnte es somit ebenfalls ein Pingpong geben – die psychologische Forschung profitiert vom Schauspiel, von dem Wissen und neuen Therapien wiederum hätten auch Schauspieler etwas. Denn für sie ist das Empathie-Empfinden eine große Hilfe – und zugleich eine Bürde. „Schauspielen ist verführerisch, weil wir damit eine ganze Menge an Emotionen verarbeiten können, die wir privat ausblenden“, sagt Katharina Wackernagel. „Viele Schauspieler sind deshalb Workaholics. Es geht ihnen als Figur besser als im realen Leben.“

Dieser Text erschien in Psychologie Heute.