Mit der VR-Brille durch die Holocaust-Gedenkstätte

Virtuelle Realität bringt Besuchern historische Orte und Ereignisse nahe. Doch bei Nazi-Verbrechen und Terror-Anschlagsorten kann das problematisch werden.

Nur wenig erinnert in Bergen-Belsen an das einst dort angesiedelte Konzentrationslager – den Ort, an dem zwischen 1941 und 1945 Zehntausende Menschen ihr Leben verloren. Heute gibt es nur noch Wiesen, Bäume und Pfade.

Besucher können jedoch mit einer Augmented-Reality-App auf einem Tablet-Computer die ursprünglichen Gebäude in die Landschaft projizieren: blasse, nüchterne Strukturen, von Forschern virtuell rekonstruiert. In einem Projekt-Video sagt ein Schüler nach dem Blick auf vergangene Massengräber und ein Krematorium: Es sei erschreckend und er habe viel gelernt.

In Bergen-Belsen können Besucher die ehemaligen Gebäude des Konzentrationslagers virtuell in die Landschaft projizieren. (Foto: Future Memory Foundation)
In Bergen-Belsen können Besucher die ehemaligen Gebäude des Konzentrationslagers virtuell in die Landschaft projizieren. (Foto: Future Memory Foundation)

Entwickelt wurde die App von der Future Memory Foundation, die der Psychologe Paul Verschure von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona sowie Habbo Knoch, Historiker der Universität zu Köln, gegründet haben. Sie möchten neue, technische Ansätze für Holocaust-Gedenkstätten verfolgen. Historiker der Universität zu Köln, gegründet haben. Sie möchten neue, technische Ansätze für Holocaust-Gedenkstätten verfolgen.

Damit reihen sie sich ein in eine zunehmende Zahl an Entwicklern, die historische Stätten oder Katastrophen virtuell aufarbeiten und Geschichte anschaulich machen. Die Immersion – das mentale Eintauchen in eine virtuelle Realität (VR) – ist intensiver als das Betrachten von Fotografien oder Filmen, fast so als wäre man selbst Augenzeuge.

Gedenkstätten, die menschliches Leid dokumentieren, stehen nun vor der Frage, wie sie mit der Technik umgehen sollen: Welche Eindrücke soll sie vermitteln? Welche Emotionen? Was ist angemessen angesichts von Gewalt und was füttert nur den sogenannten Dark Tourism – den Tourismus, der von der Faszination am Grauen lebt?

Paul Verschure hatte vor einigen Jahren Bergen-Belsen besucht und war irritiert, dass er dort nur eine friedliche Parklandschaft mit Vogelgezwitscher vorfand. Sein Großvater war als niederländischer Widerstandskämpfer in Bergen-Belsen ums Leben gekommen. Gemeinsam mit Knoch, der die Gedenkstätte bis 2014 leitete, entwarf er das Future Memory Projekt. Die beiden setzten in sogenannter 3-D-Modellierung, die auch Architekten nutzen, ein historisch akkurates digitales Abbild des Lagers aus den Erinnerungen von Zeitzeugen sowie aus Fotografien und Zeichnungen zusammen.

Positive Reaktionen von KZ-Überlebenden

Das Ergebnis ist anschaulich und nüchtern zugleich. Die virtuellen Gebäude sind in der App mit Quellen verlinkt, so dass der Nutzer zusätzliche Informationen abrufen kann. KZ-Überlebende, die diese App ausprobiert hatten, hätten positiv reagiert, sagt Knoch. „Beim Rundgang half ihnen die Visualisierung, sich an Dinge zu erinnern, die sie vergessen hatten, ohne emotional überwältigt zu werden.“ Die Kinder und Enkel der Überlebenden wollten indes mehr Realismus – sie wollten das Lager deutlicher vor sich sehen.

Mit der nüchternen Grafik wollten die Forscher eine mögliche Nähe zur Videospiel-Ästhetik vermeiden. „Es wäre technisch möglich gewesen, die Gebäude realistisch zu gestalten, so dass man zum Beispiel Holz oder Ziegelsteine erkennt“, sagt Knoch. „Auch Avatare – Repräsentationen von Menschen im virtuellen Raum – wären denkbar.“ Doch die App präsentiert Zeitzeugen in Form von Video- und Audio-Einspielungen, statt sie als virtuelle Figuren in das Gelände einzubetten.

Zeitzeugen erscheinen als 3-D-Hologramme

Einen Schritt weiter geht die amerikanische Shoah Foundation der Universität Kalifornien, die mit dem dortigen Institute for Creative Technologies das Projekt „New Dimensions in Testimony“ realisiert hat. Die Forscher führten ausgiebige Gespräche mit Überlebenden des Holocausts, wobei sie die Gesprächspartner mit sieben Kameras aus verschiedenen Winkeln aufzeichneten und aus dem Material dann Hologramme erzeugten. Die Überlebenden erscheinen bei der Präsentation nun auf einem rechteckigen 3-D-Bildschirm – lebensgroß, als würden sie vor dem Betrachter sitzen.

Zudem nutzten die Forscher eine Sprachauswertungssoftware, vergleichbar mit Siri. So können zum Beispiel Schüler den Avataren auf dem Bildschirm Fragen stellen. Das System versteht die gängigsten Fragen und setzt aus den über 20 Stunden langen Aufzeichnungen eine passende Antwort zusammen. Stephen Smith, Geschäftsführer der Shoah Foundation, sagt, das Projekt sei eine sprachgesteuerte Suchmaschine. Man wolle einen langfristigen Dialog mit Zeitzeugen ermöglichen, auch wenn diese verstorben sind.

Habbo Knoch befürchtet, dass menschliches Leid mit der virtuellen Realität nun zunehmend emotionaler präsentiert wird. In der Tat deutet vieles darauf hin. Im April 2016 trafen sich zum Beispiel Mitarbeiter von Amnesty International und der Forschungsgruppe Forensic Architecture der Universität London mit Überlebenden des Saydnaya-Gefängnisses bei Damaskus, in dem Regimegegner gefoltert wurden.

Realitätstreu nachgebaute Foltergefängnisse, Blutflecken inklusive

Basierend auf der Erinnerung Überlebender bauten die Forscher einige Räume virtuell nach, inklusive Möbel, Blutflecken und realistischer Geräuschkulisse: Türen, die sich öffnen, Schritte, Gemurmel und peitschen-ähnliche Geräusche, die auf Misshandlungen schließen lassen. Auf der Webseite von Amnesty International (https://saydnaya.amnesty.org/) lässt sich das Ergebnis ausprobieren und die Gefühle der Gefangenen lassen sich ein wenig nachempfinden.

Ärzte ohne Grenzen ließ im vergangenen März Besucher des Internationalen Filmfestivals und Forum der Menschenrechte in Genf virtuell einen Krankenhaus-Beschuss in Kundus miterleben. Ein Sprecher der Organisation äußerte den Wunsch, dass Kampfpiloten mit dieser VR-Anwendung erfahren, was sie mit ihrem Beschuss anrichten.

Studierende der Hochschule für Interaktive Medien im französischen Angoulême haben 2015 ein VR-Spiel erschaffen, bei dem Nutzer die Anschläge vom 11. September 2001 in New York nacherleben. Die Spieler finden sich in einem der Hochhäuser wieder. Scheiben klirren, Rauch dringt ein, Menschen schreien oder schlagen verzweifelt gegen die Tür. Ziel des Spiels ist, einen Ausgang zu finden. Andere Entwickler ermöglichen Nutzern, am Trafalgar Square in London die Luftangriffe deutscher Bomber im Jahr 1940 nachzuerleben. Auch die Angriffe auf Pearl Harbor und das 2016 aufgelöste Flüchtlingslager bei Calais wurden bereits virtuell rekonstruiert.

Nazi-Pogrome in Second Life erleben

Wie seltsam die Vermischung von Spiel und Dokumentation anmuten kann, zeigt eine Anwendung des US Holocaust Memorial Museum. Dieses rekonstruierte für die VR-Plattform Second Life eine Straße während der Nazi-Pogrome im November 1938. Nutzer können dort zum Beispiel als Fantasy-Avatar mit roten Haaren und zwei Samurai-Schwertern auf dem Rücken die Straße betreten. So ausgestattet passieren sie antisemitische Graffiti und die Glasscherben zerstörter jüdischer Geschäfte.

Solche virtuellen Simulationen setzen vor allem auf Affekte. Die Nutzer sollen etwas erleben, „doch das ist etwas anderes als die kognitive Auseinandersetzung“, sagt der Politikwissenschaftler Erik Meyer, Herausgeber des Bandes „Erinnerungskultur 2.0“. „Eine zu starke Affizierung der Inhalte mit dem Appell des Nachempfindens ist nicht angemessen. Einige Nutzer spricht es zwar an, andere empfinden es als Zumutung, sich emotional engagieren zu müssen.“

Außerdem suggeriere man, Ereignisse nachempfinden zu können, was der Komplexität nicht gerecht werde. Auch die virtuelle Verewigung von Zeitzeugen sieht Meyer kritisch. „Die dauerhafte virtuelle Verfügbarkeit von Zeitzeugen wird die Erinnerungskultur unserer Gesellschaft verändern. Nur auf welche Weise – das ist überhaupt nicht abschätzbar.“

VR beeinflusst Stimmung und Hilfsbereitschaft der Betrachter

Dass die virtuelle Realität Emotionen hervorruft, zeigen mehrere Studien. Forscher um Anna Felnhofer und Oswald Kothgassner von der Medizinischen Universität Wien haben zum Beispiel Probanden in virtuelle Landschaften versetzt: Einige fanden sich in einem lebhaften, sonnigen Park wieder, andere in einem trostlosen Park mit Mauern und karger Vegetation. Das beeinflusste zumindest kurzfristig die Gefühlslage der Probanden – von fröhlich, traurig, gelangweilt, wütend bis ängstlich.

Der amerikanische Kommunikationsforscher Jeremy Bailenson konnte zudem nachweisen, dass ein Aufenthalt in der VR kurzfristig Verhaltensänderungen auslöse – Leute, die virtuell in die Rolle von Farbenblinden schlüpften, waren hinterher eher bereit, Betroffenen zu helfen. Virtuelle Realität wird deshalb häufig als Empathie-Maschine beschrieben. Mit der Empathie ist das aber so eine Sache. Das Ergebnis ist nicht vorhersehbar. „Wer in der virtuellen Realität Opfer von Ausgrenzung wird, hat nicht zwangsläufig Verständnis für die Opfer – einige Leute verhalten sich hinterher eher antisozial“, warnt Kothgassner.

Virtuelle Realität hat aber auch positive Effekte: Menschen können sich besser an Orte erinnern, an denen sie präsent waren. „Wenn Schüler etwas über historische Dörfer lernen und diese virtuell durchschreiten, sind die Gedächtniseffekte tendenziell höher als beim Lernen mit anderen Medien“, sagt Anna Felnhofer. Solche Effekte sollten sich Gedenkstätten zunutze machen, findet Habbo Knoch: „Ich würde mir wünschen, diese Möglichkeiten offener zu diskutieren.“ Es sei wichtig, Standards zu setzen bevor sie von jenen gesetzt werden, die es schlechter machen.

Dieser Text erschien in der Süddeutschen Zeitung.