Vermessene Kindheit
Sollte das Baby nicht schon größer, schneller, weiter sein? Der Nachwuchs wird geprüft und problematisiert. Dabei taugen die meisten Tests gar nichts.
Die kleine Linda wirkte eigentlich wie ein glückliches Baby. Das Mädchen lächelte viel, beobachtete höchst aufmerksam das familiäre Treiben und aß brav seinen Brei. Vater und Mutter aber machten sich Sorgen, und zwar seit Lindas Geburt. Denn bei jedem Test blieb das liebe Wesen unterm Durchschnitt. Als sie älter wurde, wollte Linda weder laufen noch sprechen wie die anderen Kinder. Und obwohl sie glücklich wirkte, war Linda nun vor allem eines: ein Problem.
Ehe ein Kind seinen sechsten Geburtstag feiert, bekommt es mindestens zehn Vorsorge-Untersuchungen. Im zugehörigen Heft stellen Kurven das altersgerechte Gewicht und die Größe dar – mit Maximal- und Minimalwert, die sofort zeigen, ob das eigene Kind der Norm entspricht. Eltern erfahren in jährlichen Entwicklungsgesprächen mit Erziehern, ob der Sprössling auffallend schüchtern oder motorisch eingeschränkt ist. Vor dem ersten Schuljahr kommt dann noch die Schuleingangsuntersuchung. Wer drei Kinder hat, wird vor deren Einschulung insgesamt 45-mal von Erziehern, Lehrern und Ärzten darüber unterrichtet, wie die Kinder im Vergleich zu anderen abschneiden.
Neue Apps vergleichen Babys in Echtzeit mit anderen Kindern in der Datenbank
Die Botschaft ist klar: Es gilt, etwas zu unternehmen, falls das Kind auffällt. Viele verunsicherte Mütter und Väter haben diesen Auftrag aber bereits so gut angenommen, dass sie mit ihrem Smartphone sogar die Zeit zwischen den Screenings überwachen. Die App „BabyConnect“ zum Beispiel hält den Alltag der Kinder in Zahlen fest. Die typische Bilanz eines Tages lautet dann: Das Kind wurde achtmal gestillt und sechsmal gewickelt (dreimal war die Windel nass, einmal voll, zweimal beides). Das Kind war eine halbe Stunde fröhlich, es hat gelacht, weinte dreimal, krabbelte und rollte sich. Schlafphase, Größe, Gewicht, Kopfumfang, Körpertemperatur – alles landet in einer Timeline. Die App synchronisiert die Daten automatisch, sodass beide Eltern auf dem Laufenden sind.
Die US-Journalistin Anna Prushinskaya stellte nach einem mehrwöchigen Selbsttest fest: „Meine Beziehung zu dem Baby ist mechanisiert.“ Sie habe ständig das Gefühl, sie beobachte es – und treffe Entscheidungen so, dass sie wirklich alle Aktionen festhalten könne. „Manchmal verpasse ich es, wenn mein Baby lächelt – weil ich gerade Daten eingebe.“ Die Entwickler der App prahlen damit, dass Eltern schon rund 300 Millionen Ereignisse abgespeichert haben: 78 Millionen Schläfchen, 66 Millionen Still-Sitzungen und 60 Millionen gewechselte Windeln. Neuere Apps wie „Smart Parenting“ vergleichen die Babys sogar über eine Echtzeit-Datenbank mit dem Kindern anderer Nutzer. Gut ist, was die anderen auch noch nicht können.
Die Angst vor einer gestörten Entwicklung der Kinder ist dabei kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem. Laut Heilmittelbericht 2014 der Krankenkasse AOK haben die logopädischen Behandlungen bei vierjährigen Jungen deutlich zugenommen, jeder zweite ist in Therapie. Bei Mädchen sind es 12,8 Prozent. 125 von 1000 Jungen waren zudem schon beim Ergotherapeuten – bei den Mädchen 51. Offenbar entwickeln sich immer weniger Kinder normal. Der amerikanische Psychiater Peter D. Kramer warnt in der Zeitschrift Psychology Today vor dieser Entwicklung: Die Grenzen für Normalität würden immer enger gesteckt. Das normale Herumtoben werde zur Aufmerksamkeitsstörung, Schüchternheit zur sozialen Phobie. Grund für die Zunahme solcher Etiketten sind laut Kramer immer bessere Diagnose-Instrumente, mit denen wir uns sehen, wie wir uns nie zuvor gesehen haben. Doch die Abkehr von der Normalität macht ihm große Sorgen: „Je weiter wir Diagnosen ausweiten, desto mehr verbreiten wir Angst“. Normale Kinder würden stigmatisiert und therapiert. Risiko-Kinder fielen trotzdem durch den Raster.
Die Hälfte der Late-Talker holt von allein auf
„Wir brauchen nach wie vor bessere Instrumente, um früh zu erkennen, welche Entwicklungswege im Bildungsmisserfolg münden – und zwar ehe Therapien überhaupt nötig sind“, sagt Marcus Hasselhorn, Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt. „In einigen Bereichen fehlen solche Instrumente, in andern scheitert es an der Umsetzung, außerdem spielen subjektive Einschätzungen oft eine große Rolle.“
Kinderärzte etwa müssen schon in den Vorsorgeuntersuchungen die sprachliche Entwicklung der Kinder einschätzen. Weist ein Kind im Alter von zwei Jahren keinen Wortschatz von etwa 50 Wörtern auf, gilt es als Late-Talker. Die Hälfte dieser Late-Talker holt von selbst auf, die andere Hälfte nicht. Warum das so ist, wissen Forscher nicht. Das erschwert dem Arzt allerdings die subjektive Entscheidung, ob er eine Förderung empfehlen sollte. Immerhin können Kinder Defizite auch noch später, mit drei Jahren aufholen – falls sie denn erkannt werden.
Doch auch in Kindertagesstätten gibt es in der Sprachdiagnostik viel Frust. Das Mercator-Institut für Sprachförderung legte Ende 2013 eine ernüchternde Studie vor: Pädagogen und Sprachwissenschaftler der Universität Köln hatten 32 Qualitätskriterien für Sprachscreenings erarbeitet. Nur acht der 16 Verfahren in deutschen Kitas erfüllten mehr als die Hälfte der Kriterien. Die Kölner Forscher bemängelten auch hier, dass die Verfahren nicht objektiv seien. Je nach Bundesland und Verfahren gelten zwischen zehn und 50 Prozent der Kinder als auffällig.
In Nordrhein-Westfalen etwa setzte die Landesregierung bis vor Kurzem den Sprachtest „Delfin 4“ ein. Die Kinder absolvierten ihn in Spielform in der vertrauten Kindertagesstätte, aber auch eine fremde Grundschullehrerin war anwesend. Erzieherinnen kritisierten die gestellte Situation, einige Kinder schwiegen konsequent. Sie mussten den Test wiederholen, im Zweifel kamen sie in die Förderung, ohne dass erwiesenermaßen Bedarf bestand. Anfangs galt jedes vierte Kind als auffällig. „Man hatte das Instrument nicht gut vorbereitet“, sagt Hasselhorn. „Eine Nachjustierung machte die Quote realistischer, aber es waren immer noch zu viele, und ausgerechnet jene zehn Prozent, die eine Förderung brauchten, fielen teilweise nicht auf.“ Die rot-grüne Regierung setzte das Screening 2015 wieder ab. An Stelle von „Delfin 4“ sollen die Erzieherinnen die Kinder ganzjährig beobachten und auf Störungen achten – was auch wieder subjektive Entscheidungen erfordert.
Geht es darum, die motorische Entwicklung zu beurteilen, sind die Verfahren noch schlechter. Etwa die Hälfte der geförderten Kinder bräuchte die Förderung gar nicht. Von den Kindern, die nicht gefördert werden, bräuchte wiederum die Hälfte eine Förderung. „So eine Bilanz geht zu Lasten der Kinder“, sagt Hasselhorn. Der Pädagoge schlägt vor, in den Kitas mehr Fachpersonal einzusetzen. „Vor zehn Jahren gab es in der Frühpädagogik in Deutschland zwei Studiengänge, heute gibt es etwa 60.“ Qualifizierte Leute gebe es reichlich, aber die Kitas hätten keine Stellenbeschreibungen für sie. In den Studiengängen würden diagnostischen Fragen ausgiebig behandelt. „Wir haben die Vision, dass in jeder Kita eine Person mit einer solchen Ausbildung arbeitet. Die Screenings müssten dann viel weniger formalisiert sein.“ So ein Personal würde womöglich das Vertrauen in die Kitas stärken.
Denn ob ein Kind normal ist oder nicht – in dieser Frage vertrauen Eltern selbst in den Kita-Jahren lieber ihren Kinderärzten. Doch die sind gar nicht für alle Fragen rund um die kindliche Entwicklung qualifiziert – und weniger nah dran am Leben der Familien als Erzieherinnen. Einige Ärztebeachten zum Beispiel nicht, dass sich die Lebensbedingungen in den letzten Jahren geändert haben. „Bestimmte Impulsivitäten überinterpretieren manche Ärzte als ADHS und starten eine Behandlung mit Ritalin“, sagt Hasselhorn. „Auch wenn man generell auf Ritalin-Behandlungen nicht verzichten kann – wir gehen davon aus, dass das Medikament in doppelt so vielen Fällen verschrieben wird, wie angemessen wäre.“ Sehr häufig wird hoher Fernsehkonsum als Risikofaktor gesehen. Eltern aus sozial benachteiligten Familien betrachten jedoch einen Fernseher im Zimmer der Kinder als Zeichen des Wohlstands.
„Druck durch Erzieherinnen und Lehrer“
Die Kinderärzte sehen die Ursache für die Misere freilich woanders. Der Düsseldorfer Arzt Hermann-Josef Kahl, Vorsitzender des Ausschusses für Prävention und Frühtherapie des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sagt: Dass generell zu viele Kinder therapiert würden, sei nicht Schuld der Ärzte. Eher stecke dahinter der Druck von Erzieherinnen, Lehrern und Logopäden in den Kitas. „Die Eltern nehmen lieber eine Therapie auf, als sich vorwerfen zu lassen, sie hätten etwas versäumt. Wir reden uns um Kopf und Kragen und schaffen es manchmal nicht, die Unruhe aus der Welt zu schaffen.“ Kahl hofft, dass neue Richtlinien für Vorsorgeuntersuchungen die Entwicklungsschritte im Untersuchungsheft deutlicher herausstellen, damit die Eltern schriftlich haben, dass das Kind normal ist. Das würde sie beruhigen.
Eltern werden zu einem normalistischen Blick auf ihre Kinder erzogen
Die Erziehungswissenschaftlerin Helga Kelle von der Universität Bielefeld hat untersucht, wie Vorsorgeuntersuchungen in der Praxis durchgeführt werden und wie Ärzte und Eltern miteinander kommunizieren. Sie bestätigt, dass die Ärzte mit schnellen Diagnosen zurückhaltend sind. „Die Ärzte vermeiden tendenziell, Kinder zu stigmatisieren. In die Befundschemata schreiben sie manchmal nur Stichworte wie Motorik statt einer offiziellen Kennziffer für eine Störung. So erinnern sie sich daran, bei der nächsten Untersuchung noch einmal darauf zu achten.“ Aber Helga Kelle sagt auch: „Eltern werden zu einem normalistischen Blick auf die Entwicklung ihrer Kinder erzogen. Unabhängig davon, ob überhaupt Störungen festgestellt werden, haben die fortlaufenden Vergleiche mit der Altersgruppe Einfluss auf die Art, wie Eltern ihre Kinder sehen.“
Eltern erwarten von Kinderärzten zum Beispiel, dass sie Ratschläge zur Kindesentwicklung erteilen, obwohl die Ärzte dafür nicht ausgebildet sind. „Wenn Ärzte den Eltern sagen, sie sollten die Motorik der Kinder fördern, ist das eine pädagogische Beratung“, sagt Kelle. „Die ist in den Kinder-Richtlinien nicht beschrieben.“ Der Auftrag der Untersuchung sei die Früherkennung von Krankheiten, nicht die Primär-Prävention. Dass Ärzte trotzdem präventiv beraten, sei ein internationaler Trend. Neue Richtlinien müssten dies berücksichtigen, dann wäre die Primär-Prävention auch als Ausbildungselement für Kinderärzte leichter zu etablieren.
Am Ende bleibt es den Eltern überlassen, wie sie mit einer Förderempfehlung umgehen. Die amerikanische Erziehungspsychologin Jane Healy appelliert jedenfalls, mit der ständigen Vergleicherei aufzuhören. „Es gibt heute Eltern, die ihren Kindern am liebsten schon in der Gebärmutter Lernkarten hinhalten oder durch ein Stethoskop auf dem Bauch „buh buh“ rufen würden. Wir sind zu weit gegangen: Wir haben den Eltern das Gefühl gegeben, dass im Gehirn der Kinder ein großes Durcheinander herrscht, wenn etwas in den ersten drei Jahren schief läuft.“ Das sei völlig falsch: „Wenn Kinder eine Fähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entwickelt haben, können sie das später immer noch.“
Der amerikanische Blogger und Vater David Vienna gibt Eltern, sobald sie feststellen, dass andere Kinder etwas besser können als die eigenen, einen besonders schlichten Rat: „Calm the F*ck Down – Regt Euch verdammt noch mal ab!“ Es sei der wichtigste Rat, den Eltern bräuchten.
Dieser Text erschien in der Süddeutschen Zeitung.