Die Xbox als Waffe

Viele Armeen nutzen virtuelle Welten für die Ausbildung ihrer Soldaten. Wie es dazu kam und, wie viel das heute mit der Realität im Einsatz zu tun hat.

Ich sehe nur den Lauf meiner Waffe. Die Gegend vor mir ist mit Staub überhangen. Das Gras unter meinen Füßen knistert bei jedem Schritt. In der Ferne ertönen Schüsse. Über Funk brüllt jemand: „Ich bin getroffen. Ich brauche Sanitäter“. Ich schleiche mich an einen alten Schuppen heran und gehe eine Treppe hoch. Zwei Soldaten kommen aus der Tür gestürmt und eröffnen das Feuer. Ich reagiere und setze sie außer Gefecht. Hätten sie mich getroffen, wäre das nicht so schlimm. Ich bin in einem Computerspiel – allerdings einem sehr realistischen.

Die Szene stammt aus der aktuellen Version von „America‘s Army“, dem offiziellen Ego-Shooter der US-Armee. Das Spiel ist kostenlos und gilt als einer der erfolgreichsten Werbemaßnahmen der amerikanischen Streitkräfte. Diese nutzt das Spiel auch zur Rekrutierung. Die realistische Spielewelt soll neugierig machen und jungen Menschen den Dienst in der Armee erklären. Die Streitkräfte bauen auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Computerspiele die kognitiven Fähigkeiten schulen. Wer im Ego-Shooter reaktionsschnell und als guter Teamplayer unterwegs ist, kann später ein guter Soldat werden, so die Idee.

Aus dem gleichen Grund werden Computerspiele und virtuelle Simulationen immer häufiger in der militärischen Ausbildung eingesetzt. Sie sind außerdem günstiger als echte Übungen im Feld und können teure Attrappen ersetzen. In der virtuellen Ausbildung geht es ums Schießen und Zielen, aber auch um die Schulung taktischer Fähigkeiten, etwa wie sich Soldaten in fremden Gelände zurechtfinden können. Das Militär nutzt dafür kommerzielle Spiele, entwickelt aber auch eigene Versionen oder beauftragt spezialisierte Entwickler.

Die Verbindung zwischen Militär und Game-Entwicklern geht zurück auf „Spacewar“, eines der ersten Computerspiele überhaupt. Das Spiel erschien 1962, als sich Russland und die USA eine Art Rüstungswettrennen im Weltraum lieferten. Entwickelt hatte es der damals 23-jährige Steve Russell, ein Absolvent des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (MIT). Seine Forschungen wurden vom Verteidigungsministerium gefördert, das zwar kein Spiel im Sinn hatte, aber nach Möglichkeiten suchte, reales Kampfgeschehen technisch zu simulieren.

„Doom“ brachte den Durchbruch

In „Spacewar“ duellierten sich zwei Spieler mit ihren Raumschiffen. Die Gravitation eines nahen Sternes wirkte sich auf das Schiff und abgefeuerte Raketen aus, Waffen und Treibstoff waren limitiert. Graphisch war das Spiel schlicht: Die Schiffe waren kleine grüne Flecken auf einem bläulichen Minibildschirm. Den Studierenden am MIT war das egal. Das Spiel war neu, aufregend und so beliebt, dass die Universitätsleitung ein Schild aufhängen musste: „Kein Spacewar während der Geschäftszeiten!“

Die amerikanischen Streitkräfte benötigten jedoch realistischere Simulationen, um Taktiken für reale Kampfsituationen möglichst authentisch zu trainieren. Das Atari-Spiel „Battlezone“, das 1980 als Spielautomat in den Handel kam, entsprach eher ihren Vorstellungen. Der Spieler guckte aus einem Panzer auf eine Mondlandschaft mit aktiven Vulkanen und einem Halbmond – erkennbar als grüne Linien im Hintergrund. Man musste gegnerische Panzer beschießen und dem Gegenfeuer ausweichen. Das besondere war, dass der Spieler erstmals in einer dreidimensionalen Welt unterwegs war. Das Militär ließ eine Trainingsversion für den Bradley-Schützenpanzer programmieren, der jedoch nie in der Ausbildung eingesetzt wurde.

Anfang der 1980er-Jahre kam der Airforce-Captain Jack Thorpe schließlich auf die Idee, mehrere Rechner für eine Simulation zu vernetzen und entwickelte das System SIMNET. Die Konsolen, an denen die Spieler saßen, waren dem Inneren von Panzern und Flugzeugen nachempfunden. Mehrere Hundert Nutzer waren gleichzeitig in einem virtuellen Kriegsgebiet unterwegs. Da die Datenleitungen noch zu langsam für Grafiken waren, wurden über das Netzwerk lediglich die Positionsdaten ausgetauscht. Der Rechner aktualisierte bei jedem Nutzer die Szenerie, in der die Spieler ihren Panzer direkt vor sich sahen. Anfang 1990 trainierten damit Soldaten für Einsätze im zweiten Golfkrieg. Um die Simulation zu verbessern, arbeiteten Entwickler Taktiken aus realen Gefechtssituationen ein. Die nun farbige Grafik erinnerte bereits an den nächsten großen Durchbruch in der Game-Entwicklung: Doom.

Der Ego-Shooter Doom erschien 1993 und gilt als Meilenstein in der Spiele-Entwicklung. Die 3D-Welt zeigt die Höhlen eines Mars-Mondes, in der Spieler außerirdische Monster töten mussten. Erstmals gab es begehbare Räume unterschiedlicher Höhen und Stereo-Sound, so dass man die Richtung eines Geräusches wahrnehmen konnte. ITSpezialisten der US-Streitkräfte bauten aus dem Multiplayer „Doom II“ die Trainingsversion „Marine Doom“: Die Mars-Landschaft wich darin verlassenen Dörfern und Bunkern, statt Monstern gab es menschliche Gegner. Die Soldaten lernten spielerisch unter Stress in Millisekunden Entscheidungen für ihr Team zu treffen.

Virtuelles Abbild des Einsatzortes

Simulationen sind heute fester Bestandteil der militärischen Ausbildung – auch in der Bundeswehr. An mehreren Standorten können Bundeswehrsoldaten in einer virtuellen Umgebung Taktiken und Manöver üben und sich auf den Einsatz vorbereiten. Genutzt wird dazu die Trainingsplattform Virtual Battlespace der Firm EMEA Bohemia Interactive Simulations. Darin können sich die Soldaten zu Fuß, in Fahrzeugen, zu Land, in der Luft oder im Meer bewegen und sehen ein aktuelles, authentisches Abbild ihres künftigen Einsatzortes. Innerhalb von 96 Stunden können Informationen von laufenden Missionen in das Spiel eingebaut werden: Taktiken, Gegner, Wetterverhältnisse. In den USA konnten Soldaten schon wenige Tage nachdem Bin Laden getötet wurde seinen Aufenthaltsort betreten. Es gibt hunderte von Fahrzeugen, Charakteren aus fünf Nationen, auch Journalisten und Zivilisten – das Spiel trainiert sogar die interkulturelle Kommunikation mit computergesteuerten „Einheimischen“. „Man kann nicht den Schmutz, Staub, die Hitze und den Stress in einer echten Kampfsituation simulieren, aber ich denke, Virtual Battlespace bringt einen so nah an Afghanistan heran wie nur irgendwie möglich“, zitiert Corey Meard einen Marine in seinem Buch „War Play“.

Noch realistische Trainings verspricht die neueste Generation der Simulationen, bei denen sich Soldaten körperlich in virtuellen Szenerien bewegen – mit 3D-Brillen wie „Oculus Rift“ und Waffen- Nachbildungen in der Hand. Ein Beispiel ist das „Dismounted Soldier Training System“, das auf der Spiele-Engine des Shooters „Crysis 3“ basiert. Die Nutzer sitzen nicht vor einem Bildschirm, sondern stehen in einem Raum und sind über Sensoren an das Trainingsprogramm angeschlossen. Ihre Bewegungen werden direkt auf den Avatar in der virtuellen Gefechtssituation übertragen.

Das System, das bislang vor allem in den USA zum Einsatz kommt, soll Soldaten auch auf den emotionalen Stress im Kampf vorbereiten: Sie hören die Schreie der Getroffenen, sehen angstverzerrte Gesichter vor sich. Erleben die Soldaten später ähnliche Situationen im Kampf, sollen sie diese besser verarbeiten können. Ob die virtuellen Simulationen aber wirklich helfen, sich eine mentale Rüstung anzulegen und posttraumatischen Störun gen vorbeugen können, ist bislang nicht wissenschaftlich belegt. Erste Studien dazu werden derzeit durchgeführt.

Doch Simulationen haben mit der Realität im Krieg doch oft eher wenig zu tun. Das zeigt sich beispielsweise auch an den Erfahrungen amerikanischer Drohnenpiloten. Diese sitzen zwar weit entfernt von den eigentlichen Einsatzgebieten vor ihren Bildschirmen, erleiden aber trotzdem, wie andere Soldaten auch, posttraumatische Störungen (PTBS). Von rund 1000 Piloten der US-Streitkräfte geben im Schnitt jedes Jahr 240 ihren Dienst auf. Die Air Force begründet das mit Überarbeitung, einige Piloten gaben als Grund jedoch die schockierenden Video-Aufnahmen an: Sie zeigen die verstümmelten Opfer ihrer ferngesteuerten Angriffe. Heather Linebaugh, die solche Bilder für das Militär auswertete, schrieb in der englischen Zeitung „The Guardian“: „Wenn Du Dir das immer wieder anschaust, verankert es sich wie ein nie endendes Video in deinem Kopf.“ Sie hoffe, dass das niemand erleben müsse.

Dieser Text erschien im JS Magazin.